Vielfalt und Diversity in Kinderbüchern – ein Leitfaden für eine vielfältige und diskriminierungsarme Bücherwahl.
Warum ich über Vielfalt und Diskriminierung in Kinderbüchern schreibe und rede
Kinder lernen bereits im Kindergartenalter, welchen Menschen in unserer Gesellschaft welcher Platz gebührt, welche Rangordnung die verschiedenen Sprachen sowie Religionszugehörigkeiten haben und welche Schönheitsideale gelten. Was anerkannt ist oder abgelehnt wird, wissen Kinder früh. Ebenso wissen sie, welchen Platz sie selber in diesem Gefüge einnehmen.
Sie brauchen ein Umfeld, das ihnen hilft ein positives Selbstbild zu entwickeln. Kinderbücher und Spielzeuge haben darauf einen großen Einfluss, da durch sie tradierte Bilder aufgebrochen oder bestärkt werden können.
Als weißer und weiß sozialisiertem Elternteil fällt mir eine Schieflage oder Ungerechtigkeit oft nicht auf. Es ist ein mühsamer Weg, bestehende Denkmuster kritisch zu betrachten und neu zu bewerten. Kein Wunder eigentlich, wenn man bedenkt, dass auch ich mein Bewertungsgefüge schon von Kindesbeinen an erlernt haben. Dieser Leitfaden soll dabei helfen, Bücher kritisch zu betrachten und neu zu bewerten: Sind sie förderlich für die Kinder? Wie genau stellen sie Vielfalt dar? Sind die Bücher empfehlenswert?
Wie ich selber Bücher bewerte, ist ein sich ständig ändernder Prozess. Was ich gestern noch als gutes Buch angesehen habe, besteht morgen schon nicht mehr meinen Qualitätstest. Aber ich komme der Sache mit den guten und den weniger guten Büchern langsam auf die Spur. Je besser ich meinem Kind eine positive Selbstwahrnehmung vermitteln kann, desto besser fühlt es sich. Schlechte Bücher, die das verhindern, möchte ich erkennen und aussortieren können. Darum rede ich über Diskriminierung und Vielfalt in Kinderbüchern.
Der Standardzustand im Kinderzimmer – Spielzeug und Bücher ohne Diversity.
Um sich bewusst zu machen, was der Standardzustand und damit die definierte Norm in unser Gesellschaft (ich spreche hier von Deutschland) ist, gebe ich nachfolgend einige Anhaltspunkte. Diese gesetzte Normalität spiegelt sich in den (Kinder)Büchern. Alle Menschen, die in mindestens einem Merkmal von dieser Liste abweichen (oder so wahrgenommen werden, als ob sie davon abweichen), erfahren Benachteiligungen. Dies geschieht nicht immer bewusst, weder für diejenigen, die benachteiligen, noch für diejenigen, die die Benachteiligung erfahren. Diejenigen, die benachteiligt werden, merken dies an ihrem Verletztsein in der Regel schneller, als diejenigen, die benachteiligen. Als Norm gilt (Anhaltspunkte, keine vollständige Liste):
- deutsch
- weiß
- männlich
- hetero
- dünn
- gesund
- christlich
- ohne Behinderung
Weiterhin wird in Kinderbüchern oft vermittelt:
- Mittelschicht
- Mutter zu Hause, Vater arbeitet, Eltern heterosexuell und zusammenlebend
- Haus am Stadtrand
- Auto – mindestens eins, Kombi
- bestimmte Spielzeuge = Standard (Bobbycar, Fahrrad, Fahrradhelm, Laufrad, Inline-Skates..)
Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie kann erheblich verlängert werden und soll hier nur als Gedankenanstoß dienen.
Was bewirken Kinderbücher bei Kindern?
Sprache ist mächtig und nie neutral, bei Bildern ist dies ebenso. In der Kombination von Bildern und Sprache wird diese Macht potenziert. Bücher werden oft als „Gesetz“ angesehen, gerade von Kindern. Ich selber hatte z.B. Hemmungen Bücher wegzuwerfen oder ihren Inhalt anzuzweifeln, weil:
- ich Bücher mag, ich habe eine emotionale Bindung zu Büchern
- der Inhalt richtig sein muss, weil das darin „es wert war“ als Buch zu erscheinen
- wichtige“ und „gebildete“ Menschen sie geschrieben haben müssen, „normale“ Menschen jedenfalls nicht
- …
Kinderbücher sind identitätsstiftend und vermitteln ein Bild darüber, wo ich mich in der Gesellschaft ein- und unterzuordnen habe. Kinder (und üblicherweise auch erwachsene Leser*innen) identifizieren sich mit den Held*innen der Geschichte – nicht mit den Nebencharakteren. Finden sie sich selber jedoch nur in den Nebenrollen oder gar nicht wieder, so bedarf es einiger (pädagogischer) Arbeit, dieses Bild zu verändern.
Welche Konsequenzen ruft Rassismus in Kinderbüchern hervor?
Bücher sind oft voll von offenem und verstecktem Rassismus. Um diesen zu erkennen muss man immer wieder genau hinsehen. Der Blick schärft sich erst nach und nach dafür, weil es mit der eigenen Sozialisierung als „normal“ angenommen wird, wie „andere“ Menschen dargestellt werden Die sensible Wahrnehmung, was eine gute Darstellung ausmacht und was nicht, entwickelt sich erst langsam. Solange wir als Eltern selber noch Rassismus reproduzieren (einfach weil wir es noch nicht besser wissen oder besser können), solange erleben unsere Kinder ihn durch die ihnen vertrautesten Personen und damit als „richtig“. Daher lautet mein flammendes Plädoyer: Bitte betrachtet Euer eigenes Denken und die Bücher, die Ihr Euren Kindern gebt, immer kritisch.
Self fulfilling prophecy – selbsterfüllenden Prophezeiung. Wenn ich mir immer wieder selber sage: „ich schaffe das nicht, ich bin nicht gut genug etc.“ dann fällt es schwer, etwas zu schaffen und ich sehe es als Glück an – nicht als eigene Leistung – wenn etwas dann doch gelingt. Ebenso ist es bei Fremdzuschreibungen. Wenn mir immer wieder direkt oder indirekt gesagt wird (weil ich von der vermeintlichen Norm abweiche, siehe Liste oben), dass ich etwas „anderes“ bin, besonderes im Sinne von nicht „normal“, mir dazu vielleicht zugeschrieben wird, z.B. sportlich zu sein, gut tanzen und singen zu können, alle Farben tragen zu können, werde ich dann Philosophin, Ingenieurin, ITFachfrau oder Ärztin? Wahrscheinlich würde ich nicht glauben, dass ich das könnte, da ich ja „nicht normal“ bin. Ich würde wahrscheinlich versuchen das zu verbessern, was mir (zugeschrieben oder real) besonders gut gelingt. Das Darstellen der „Norm“ und damit das Abweichen davon ist leider für unsere Kinder massiv der Fall in „normalen“ Kinderbüchern. Sie nehmen unseren Kindern Möglichkeiten durch das permanente Wiederholen, dass sie nicht „normal“ und damit gut und wichtig sind, einfach weil sie nicht vorkommen oder wenn sie es tun nicht in starker und identitätsstiftender Weise. Sie sind nicht die Held*innen in den Standardwerken, nicht die Hauptakteur*innen. Bereits im Alter von etwa drei Jahren wissen unsere Kinder, dass sie nicht dazugehören. Nicht richtig jedenfalls. Das müssen sie ertragen.
Wann sind Bücher gut und “richtig” vielfältig?
Jede Familie muss ihren eigenen Umgang damit finden, welche Kinderbücher sie schlecht und welche akzeptabel findet. Die Welt ist voll von Büchern – mehr von schlechten als von guten (zumindest aus meiner Sicht und in Hinblick auf Diskriminierungen). Ich beschreibe an dieser Stelle, wann Kinderbücher für mich nach meinem persönlichen aktuellem Stand gut sind und möchte damit Anregungen bieten, eine eigene Sicht dazu zu entwickeln.
Für mich sind Kinderbücher dann gut, wenn es nicht erwähnenswert ist, dass das handelnde, aktive und identitätsstiftende Kind, PoC (Person of Color)/“anders“ (nicht „normal“ siehe Liste oben) ist und dabei positiv dargestellt wird. Wenn mein Kind, so wie es ist (unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Orientierung…, also Abweichungen von der „Norm“), der*die Held*in sein kann – in Wort und in Bild. Wenn Kinder sich identifizieren können, nicht der „Norm“ entsprechen müssen. Akzeptabel sind sie, wenn der positive Eindruck überwiegt und zumindest nicht der „Norm“ entsprechende Kinder/PoC in aktiven und wichtigen Nebenrollen positiv vorkommen.
Wann sind Bücher aus meiner Sicht nicht empfehlenswert?
Kurz gesagt in allen anderen Fällen als in den als gut oder als akzeptabel bewerteten Fällen. Das heißt nicht, dass wir zu Hause keine nicht-empfehlenswerten Bücher haben und benutzen. Vielmehr versuchen wir, diese dann anzupassen und aufzuarbeiten. Wenn wir nur gute Bücher nach meinen Kriterien hätten, dann wäre unser Bücherregal ziemlich leer. Leider.
Zum Glück ändert sich das gerade und es kommen mehr gute Titel auf den Markt. Um herauszufinden, wann Bücher nicht empfehlenswert sind, muss ich immer wieder genau hingucken, denn oft sind es wirklich kleine, versteckte Dinge, die das Zünglein auf der Waage ausmachen. Die Fragen weiter unten können dabei helfen, sich Gedanken darüber zu machen und die Entscheidung zu fällen, ob ein Buch gut oder nicht empfehlenswert ist (oder gar richtig schlecht).
Was kann ich tun um Kinderbücher vielfältiger zu machen?
Immer wieder genau hinschauen und wirklich alles hinterfragen. Möglichst viele Bücher suchen, die gut sind, Texte überschreiben, durchstreichen und verbessern, Bilder notfalls übermalen und unrettbare Bücher einfach wegwerfen. Vorhandene Bücher sehe ich meist als „work in progress“ (im Prozess befindliche Arbeit) an, da ich fast immer etwas auszusetzen habe. Es gibt viel mehr schlechte als gute Bücher, daher ist es wichtig, den Kindern zu erklären, dass viele Bücher einfach nicht gut sind oder Möglichkeiten zur Verbesserung haben. Dass es o.k. ist zu sagen, wenn Bücher schlecht sind. Bücher dürfen kritisiert werden. Jedem gegenüber. Jede Familie und jedes Kind sollte den Umgang mit Büchern erlernen, denn wer nicht auf dem Mond lebt, hat frustrierenden Kontakt mit nicht-empfehlenswerten Büchern.
An die Verlage heranzutreten und zu benennen, was für ein Mist in den Büchern steckt, oder was verbessert werden kann, ist eine gute Idee. Dabei gilt es immer freundlich und sachlich zu bleiben, aber je mehr Briefe dort eintrudeln, desto eher setzt ein Umdenken ein. Wer nichts sagt, wird nicht wahrgenommen.
Kreiert eine neue „Normalität“, so gut es Euch möglich ist und wie sie zu Euch passt.
Leitfragen für die Auswahl von vielfältigen Büchern – oder Büchern mit Diversity.
Einige Leitfragen habe ich aus dem Flyer „Interkulturelle Kinderbücher: Vielfalt als Prinzip“ des Verbands binationaler Familien entnommen und einige sind von mir. Beim Verband binationaler Familien ist auch eine Positivliste erhältlich mit Büchern und Spielen, die vom Verband empfohlen werden. Aber auch diese muss kritisch hinterfragt werden, letztlich müsst Ihr selber entscheiden, was Ihr als gut einschätzt und ihr Euren Kindern anbieten wollt.
Übergeordnete Fragen um Diversity in Büchern zu beurteilen:
- Wer wird dargestellt?
- Wie werden die Personen dargestellt?
- Welche Klischees/Normen/Stereotypen werden vermittelt?
- Was ist die Botschaft des Buches?
- Wie sind die Illustrationen gestaltet? – Passend zur Sprache oder widerlegen sie das Wort?
Detailfragen um übergeordnete Fragen zu Diversity in Büchern leichter beantworten zu können:
- Wer sind die Protagonist*innen / handelnden Personen, wer die passiven? Wer ist der*die Held*in?
- Wie werden die handelnden Personen dargestellt, wer steht im Vordergrund, wer erscheint weniger wichtig?
- Werden Menschen dargestellt, die nicht der „Norm“ entsprechen (also z.B. Migrant*innen, Menschen mit dunkler Hautfarbe, Menschen mit Behinderung, dick/dünn, heterosexuell/homosexuell, verschiedene Glaubensrichtungen…)?
- Sind sie gleichberechtigt, untergeordnet oder als Held*innen dargestellt? Warum sind sie Held*innen/gleichberechtigt/untergeordnet dargestellt und ist das in Ordnung?
- Werden Menschen verschiedener Herkunft differenziert dargestellt oder wird mit (auch versteckten) Klischees gearbeitet?
- Sind die dargestellten Menschen mit verschiedenen Herkünften gleichberechtigt?
- Welcher Art sind die Beziehungen zwischen Einheimischen und Migrant*innen? Gleichwertig? Bestehen Abhängigkeiten, wer ist auf wen angewiesen, wer braucht etwas / ist hilfsbedürftig, wer hilft… (z.B. das geflüchtete Kind bekommt Hilfe von den neuen Klassenkameraden sich zu integrieren im Gegensatz zu das geflüchtete Kind vermisst sein Kaninchen und alle helfen es zu suchen)?
- Werden Menschen mit nicht deutscher Herkunft (auch einer zugeschriebenen nicht deutschen Herkunft) und nicht der „Norm“ entsprechendem Aussehen auf Problemfälle, Opfer oder Randfiguren reduziert oder sind sie selbstverständlicher Teil der Geschichte & Handlung?
- Erscheinen unterschiedliche Lebensformen und Normen ebenbürtig? Wird vermittelt, dass die eine oder andere Art zu leben besser ist?
- Wird der Eindruck vermittelt, dass nur, wer sich kulturell komplett an das Mittelmaß anpasst, von anderen akzeptiert wird?
- Muss sich die handelnde Person erst bewähren, um dazugehören zu dürfen? (Erst wenn dieses oder jenes Problem – z.B. Sprache erlernen, passende Kleidung/Wohnung finden, soziales Verhalten anpassen… – überwunden ist, ist die handelnde Person gleichwertig).
- Wie sind die Illustrationen gestaltet? Passen diese zu dem sprachlichen Inhalt? Untermauern oder widerlegen sie ihn?
Illustrationen vermitteln oft sehr subtil Klischees und Normen und sind für Kinder (und Erwachsene) meist viel aussagekräftiger als Sprache (und die Diskriminierungen darin schwierig zu entdecken). In Illustrationen hat jedes Detail eine Aussage. Ist dort alles gegeben, was auch in der Sprache gegeben ist?
Alle oben genannten Fragen gelten somit auch als Leitfragen für die Illustrationen. Wenn die Illustration eine ganz andere Aussage macht, als der Text, dann entsteht hierdurch oft eine diskriminierende Schieflage.
Rassismus und andere Diskriminierungen finden unglaublich oft ein Hintertürchen und schleichen sich in sehr vielen Facetten in die Bücher und Gedanken. Es hilft nur, viel darüber nachzudenken, sich selbst zu hinterfragen, genau hinzuschauen und dann konsequent zu handeln. Was nicht immer leicht ist, wie ich finde, denn es gibt z.B. Bücher, die mein Kind liebt, und die ich nicht einfach entfernen kann. Ebenso will ich nicht ständig über Diskriminierung reden und mein Kind damit nerven. Und es gibt gute Bücher, die langweilig sind und gut gemeinte Bücher, die dennoch schlecht gemacht sind. Die kritische Auseinandersetzung mit den Büchern ist ein fortwährender Prozess.
Erobert Euch die guten Bücher!
Oda Stockmann
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